Samstag, 12. März 2022

Wenn Touristen fotografieren wie Wilddiebe

Alhambra in Granada, Spanien
Ich musste für dieses Foto abwarten, bis drei Reisegruppen wieder in ihren Bussen saßen.

Japaner fotografieren, die fotografierende

Japaner fotografieren

Vielleicht haben Sie den Spruch aus der Überschrift auch schon irgendwann einmal gehört? Im Andalusienurlaub vor einigen Jahren hatte ich in der Alhambra in Granada das große
Vergnügen an der Kasse in Kontakt zu gleich drei Reisegruppen "Europa in sieben Tagen"
zu geraten.

Sonnenschirm und Spiegelreflex

Tatsächlich handelte es sich um japanische Touristen, die in drei Reisebussen quer durch
Spanien unterwegs waren. Und sie verhielten sich sehr merkwürig: Die meisten Frauen der
Gruppe "hüpften" vorsichtig von Schattenplatz zu Schattenplatz. Ihnen auf den Fersen flitzten
ihre Männer mit Regenschirmen um die Holden vor dem heftigen Sonneneinfluss zu schützen. Die anderen Männer besahen sich ihre Umwelt ausschließlich durch die Sucher ihrer Spielgelreflexkameras.

Anvisiert wie Tontaubenschützen

Ohne die Kameras von den Augen zu nehmen, "besichtigten" sie das Schloss und verhielten sich
dabei wie Tontaubenschützen. Sie "schossen" wie wild um sich. Manche fotografierten bei einem Schwenk aus Versehen ihre Nachbarn. Dann lachten sie darüber (siehe Überschrift). Ich selbst war mit einer Mamiya 6x4,5-Ausrüstung inkl. drei Objektiven unterwegs. Allein das Gewicht im Rucksack reduzierte meinen Bewegungsdrang im Gegensatz zu dem der Japaner auf ein Minimum. Die Hitze tat ihr Übriges. Als ich meine ersten drei Aufnahmen im Kasten hatte, starteten die Busfahrer der Reisegruppen bereits ihre Motoren. Ich war endlich allein mit der spanischen Vergangenheit.

Reisen als Strategie zum Fotografieren

Das brachte Zeit zum Nachdenken. Warum verhielten diese Amateurfotografen sich so wie eben erlebt, fragte ich mich. Antworten entdeckte ich später in einem schlichten Büchlein von Susan Sonntag mit dem Titel "Über Fotografie". Sie schreibt: "Reisen wird zu einer Strategie, die darauf abzielt, möglichst viele Fotos zu machen. Allein schon das Hantieren mit der Kamera ist beruhigend und mildert das Gefühl der Desorientierung, das durch Reisen oft verschärft wird. Die meisten Touristen fühlen sich genötigt, die Kamera zwischen sich und alles Ungewöhnliche zu schieben, das ihnen begegnet." Da sie sonst nicht wüssten was zu tun sei, würde geknipst. So werde Erfahrung in eine feste Form gebracht: "(...) stehenbleiben, knipsen, weitergehen", so Sontag.

Umgang mit Kamera gegen innere Unruhe

Insbesondere im Berufsalltag unter Stress stehende Touristen setzen den Umgang mit der Kamera unbewusst gegen ihre innere Unruhe ein, die sich im Urlaub einstelle. Dies beträfe laut Sontag Amerikaner, Deutsche und tatsächlich auch die Japaner. Nach Sontag bestehe ihre Zeit aus interessanten (fotografierenswerten) Ereignissen. "Eine Erfahrung zu machen, wird schließlich identisch damit, ein Foto zu machen, und an einem öffentlichen Ereignis teilzunehmen (...)"

Es hat stattgefunden

Vor meinem geistigen Auge sehe ich die fotografierenden Teilnehmer der japanischen Reisegruppe mit ihren Familien bei einen Foto-Nachmittag daheim. "Ja", sagen die Fotos, "ja, es hat stattgefunden. Meine (Fotoaus-)Beute beweist es", sagen sie bestimmt.

Nur zücken, zielen, schießen

Susan Sontag zitiert einen Werbetext der Firma Yashica, die direkt auf die Analogie der neuesten Kamera zu einer Waffe sowie den entsprechenden Umgang damit abzielt: "Die Yashica Elektro-35 GT ist eine Kamera des Raumfahrtzeitalters, die Ihre Familie begeistern wird. Herrliche Aufnahmen bei Tag und Nacht. Automatisch. Keine technischen Kinkerlitzchen. Nur zücken, zielen, schießen. Das Computergehirn und die elektrische Blende besorgen den Rest."

Zum Glück haben wir für Selfies heute ja Smartphones mit Filtersoftware, die alles ohne echtes Können erledigen, oder?

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