Sonntag, 13. März 2022

Fotografie als empirische Methode der Beobachtung

Bild darf nicht veröffentlicht werden
Ohne Worte.

Beobachtung mit der Kamera als Methode
der empirischen Sozialforschung

Was sagt die Außenaufnahme einer Bank über interne Abläufe, Arbeitsklima, Sozialgefüge und
Zufriedenheit der Arbeitnehmer aus? Was liefert das Klassenfoto wie jeder es kennt über
Devianzverhalten einzelner, interne Grüppchenbildung und Sozialkompetenz aus? Die Antworten sind
völlig klar: Sie sagen nichts aus!

Fotografie schminkt Zusammenhänge weg

Bereits 1930 beschäftigte sich Bertholt Brecht mit diesen Zusammenhängen. Er schrieb: "Sie brauchen nicht zu bezweifeln, daß der Film zeitgemäß ist! Die Fotografie ist die Möglichkeit einer Wiedergabe, die den Zusammenhang wegschminkt. Der Marxist Sternberg (...) führt aus, daß aus der (gewissenhaften) Fotografie einer Fordschen Fabrik keinerlei Ansicht über diese Fabrik gewonnen werden kann. Selbst wenn der Soziologe zu dem gleichen Resultat kommt wie der Ästhet, ist sein Resultat unendlich brauchbarer."

Beweisfoto für Außenseiter in Schulklasse gesucht

In dieser "Tradition" war es einst meine Aufgabe zusammen mit einer Studienkollegin das Medium Fotografie als Methode der Sozialforschung einzusetzen. Unser Ziel, formuliert vom genialen Professor für Soziologie und Seminarleiter Prof. Dr. Johannes Gordesch: "Beobachtet die Kinder einer Schulklasse. Findet heraus, wer zu den Außenseitern gehört!"

Beweisfotos für soziales Gefüge

Die Klasse war rasch gefunden. Unser Einsatz im Dienste der Sozialforschung konnte beginnen. Zu dieser Zeit war ich als freier Bildjournalist für die Berliner Presse tätig. Schwerpunkte waren Kultur und Sport. Also zählten Actionfotos von American Football sowie stimmungsvolle Aufnahmen von z.B. David Bowie zu meinem eigentlichen Metier. Beweisfotos für soziales Gefüge bei Schülern hatte ich noch niemals gemacht.

Leise Leica im Einsatz

Die Wahl der Waffen stand am Anfang. Wir entschieden uns gegen die laute Spiegelreflex mit Motor und für eine leise Leica. Trotzdem mussten sich die Kinder erst an uns gewöhnen. Und vor allem daran, dass wir sie durch den Sucher ständig ins Visier nahmen. Am ersten Vormittag "fotografierten" wir gänzlich ohne Film. Zuerst gabe es jede Menge Faxen von einzelnen Schülern, die sich gerade fotografiert wähnten. Nach vier Stunden wurde ihnen das aber sehr langweilig, sie beachteten uns nicht
mehr. Bingo! Unsere Taktik war aufgegangen.

Weg von Statusporträt

Früher dominierten Fotos von Adligen, Geschäftsmännern und Politikern die Porträtlandschaft mit ihren nahezu unnatürlichen Autoritäts- und Statusdarstellungen vor gestellten Hintergründen. Im Jahr 1929 änderte sich dies grundlegend. Der deutsche Fotograf August Sander stellte eine Reihe von Kopffotos (um nicht Porträts zu sagen) zusammen. Walter Benjamin beschreibt Sanders Vorgehensweise in seiner "Kleinen Geschichte der Fotografie" wie folgt: "Sander geht vom Bauern, dem erdgebundenem Menschen aus, führt den Betrachter durch alle Schichten und Berufsarten bis zu den Repräsentanten der höchsten Zivilisation und abwärts bis zum Idioten." Sander sei von der unmittelbaren Beobachtung ausgegangen.

Tradition der zarten Empirie

Diese sei bestimmt eine sehr vorurteilslose, ja kühne aber auch zarte gewesen, die sich an den Worten Goethes orientiert hatte. Der große deutsche Dichter sagte einst: "Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird." Alfred Döblin über Sanders Arbeiten: "Wie es eine vergleichende Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffassung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat dieser Photograph vergleichende Photographie betrieben und damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der Detailphotographen gewonnen."

Fotos als Interpretation der Welt

Fotos von einem Kleinpächter zu machen war Ziel eines Projekts der Afrm Security Admininistration. Bekannte Fotografen wie Walker Evans, Dorothea Lange, Ben Shan und Russel Lee "machten Dutzende von Porträtaufnahmen eines Kleinpächters, bevor sie überzeugt waren, genau das getroffen zu haben, was sie auf dem Film festhalten wollen - jenen Gesichtsausdruck, der ihren eigenen Vorstellungen von Armut, Würde und Ausbeutung, von Licht, Struktur und geometrischem Maß entsprach", schreibt Susan Sontag in ihrem Aufsatz "In Platos Höhle". Fotografen würden ihrem Gegenstand stets bestimmte Maßstäbe aufzwingen. Die Fotos seien ebenso wie Gemälde eine Interpretation von Welt. Eben die Interpretation der Fotografen. Genau so erging es uns auch bei den Aufnahmen in der Schulklasse.

Ziel mehr als erfüllt

Zurück zur Schulklasse: Zwei Tage später hatten wir vier Ilford Schwarzweißfilme mit je 36 Aufnahmen belichtet. Der Einsatz vor Ort war beendet. Filmentwicklung und Kontakbögenprints waren unsere nächsten Aufgaben. Schon ein Blick auf die Kontaktprints ließ uns kleine Jubelschreie gen Himmel schicken. Die Miniaturfotos deuteten bereits an, dass wir unsere Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit erledigt hatte. 100 Abzüge in 18x24 waren bald getrocket. Wir konnten unsere Auswahl
treffen und erkannten schnell, dass wir unser Ziel mehr als erfüllt hatten.

Schülerin mit traurigem Blick

Unsere Fotos zeigten die Grüppchenbildungen während des offenen Unterrichts ebenso wie Pärchen, die sich beim freien Spielen gefunden hatten. Ein Foto stach aus der Masse gänzlich heraus: Während alle Schüler im rechten Bereich des Klassenzimmers miteinander ein Spiel spielten, saß links eine muslimische Schülerin völlig allein und schaute den anderen mit wirklich traurigem Blick zu. Scheinbar durfte sie nicht am Spiel teilnehmen. Zack! Das war unser Außenseiterfoto mit der größten Aussagekraft. Es gab zwar noch einige andere, aber dieses Bild berührte uns wirklich sehr. Das bestätigten später die anderen Seminarteilnehmer und auch Prof. Gordesch.

Streetfotografie bietet Möglichkeiten

Fotografie als Methode wurde ein Jahr später Thema meiner Diplomprüfung zum Soziologen. Es begeistert mich auch noch heute. Leider verbietet die Datenschutzgrundverordnung die Veröffentlichung von Fotos mit Darstellung von Menschen, die keine Einwilligung gegeben haben. Die Streetfotografie könnte sehr viele Belege für soziale Belange liefern - darf sie aber nicht.
Schade eigentlich!

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