Donnerstag, 17. März 2022

Den fotografischen Blick entwickeln

Elbphilharmonie mit Detail der Fassade
Elbphilharmonie mit Detail von der Fassade. Wer genau hinschaut, sieht dies.

Ganz genau hinschauen statt 

schnell nur definieren

Schauplatz Neuruppin, Fontaneplatz. Seit dem 8. Juni 1907 steht dort das vom Bildhauer Max Wiese gestaltete Denkmal des Dichters der Mark, Theodor Fontane. Wie sieht das "richtige" Foto dieses Denkmals aus? Für Menschen, die tagtäglich auf dem Weg zur Arbeit und zurück daran vorbei gehen? Für sie reicht wohl eine durchschnittliche Automatikaufnahme. Diese Betrachter werden über das Foto sofort denken "Aha, kenne ich, das Denkmal von Fontane auf dem Fontaneplatz.

Touristen fotografieren das Fontane-Denkmal

Touristen, die das Denkmal zum ersten Mal sehen, verweilen dort. Lange. Sie sehen sich das Denkmal recht genau an. Das konnte ich in dem Jahrzehnt, das ich in Neuruppin als Bildjournalist und Redakteur verbracht habe, oft beobachten. Sie kennen das Denkmal vielleicht aus ihrem Reiseführer. Sie denken möglicherweise "Aha. So sieht es also in echt aus, das Denkmal aus dem Reiseführer." Viele machen auch Fotos davon - eigentlich die meisten von ihnen. Oft schauen sie sich nochmal das Foto im Reiseführer an und stellen Vergleiche mit der Wirklichkeit an. Ob sie in der Qualität ihrer Fotos über die oben erwähnte Automatikaufnahme hinaus kommen? Manche vielleicht. Die meisten sicherlich nicht. Die zählen zu den um sich schießenden fotografierenden Touristen, den Foto-Wilddieben.

Grass beschreibt Denkmal bis ins kleinste Detail

Ortswechsel. Schauplatz Neustadt/Dosse, Aula des dortigen Gymnasiums. Es steht eine Lesung von Günther Grass auf dem Stundenplan. Er liest aus "Ein weites Feld" für Oberstufenschüler. Auch er steht in der Geschichte vor dem Denkmal. Er beschreibt es wie folgt: "Wie erwartet fanden sie den Schriftsteller als rastenden Wanderer, in Bronze sitzend, auf einer steingehauenen Bank. Er wollte von
allen Seiten besichtigt werden.  Dort, wo er sich mit dem linken Arm abstützte, war der Armlehne eine Metallplatte im Schmucksims eingelassen, auf der zu lesen stand, daß dieses Denkmal im Jahr 1907 dem ´Dichter der Mark` errichtet worden war.

Fontane schaut barhäuptig in die Ferne

Seitdem sitzt er im offenen Mantel, schlägt das rechte Bein über, läßt die rechte Hand, die den massiven Bleistift hält, nahe dem hochgestützten Knie ruhen, während die linke Hand vom Steinsims weg lässig abknickt und mit dem Zeigefinger ein Notizbuch aufsperrt. Neben dem Sitzenden, der barhäuptig in die Ferne schaut, ist genügend Platz für den metallenen Faltenwurd des insgesamt geräumigen Mantels und den im Verlauf der Jahrzehnte grauschwarz patinierten Hut, den der rastende Wanderer auf der Bank abgelegt hat und dessen Krempe rundum aufgestülpt einen Graben bildet, in dem sich Wasser von letzten Regengüssen gesammelt hat.

Bronze glänzt abgegriffen

Der eigentliche Hut wirkt flach, weil eingedellt. Über die Lehne am anderen Bankende, der gleichfalls eine Metallplatte eingefügt worden ist, auf der Name, Geburtsort und die beiden Daten des Dichters zu lesen sind, hat der rastende Wanderer durch die Mark seinen berühmten Shawl geworfen, dem allerdings kein schottisches Muster eingewebt worden ist. Außerdem lehnt sich in naturgetreuem Guß
sein Wanderstock an die steinerne Lehne. Die Bronze glänzt abgegriffen, die Wanderschuhe sind geputzt. (...) Vielleicht sollte noch die vom offenen Mantel freigegebene Weste erwähnt werden - auch daß sie Querfalten wirft - und gleichfalls die zur Schleife gebundene Halsbinde. Man könnte sich in weitere Details vergucken - später vielleicht."

Schülerin stellte Frage aller Fragen

Soweit Günter Grass im Original. In der Aula war die Lesung mittlerweile vorbei. Für die Schüler war es Zeit Fragen zu stellen. Wieviel er pro Tag schreibe, woher die Ideen kämen und ähnliche Fragen beantwortete der Schriftsteller sehr höflich und präzise. Pädagogisch und ganz fachlich wurde Grass dann in den Antworten auf diese Frage: "Waren Sie eigentlich schon einmal in Neuruppin? Sie beschreiben ja das Fontanedenkmal so genau."

Nicht nur Schriftsteller sondern auch Zeichner

Manche der anwesenden Schüler glucksten ein wenig, blieben aber ansonsten altergemäß (Oberstufe) professionell. Da auch ich Ohrenzeuge dieser Frage war, kannte meine Spannung keine Grenzen. Wie würde der Schriftsteller reagieren? Seine pädagogisch und auch fachlich gut gemeinte Antwort lautete: "Ja, ich stand bereits vor dem Fontanedenkmal. Und wissen Sie, ich bin nicht nur Schriftsteller sondern auch Zeichner. Und als Zeichner, da muss ich ganz genau hinschauen, damit ich auch erfasse, was ich vor mir habe."

Großformatiger Abzug wäre erforderlich

Wie hätte Günter Grass das Fontanedenkmal fotografiert? Er hat früher auch fotografiert - gerne mit einer Boxkamera. Doch mit dieser wäre auf dem Denkmalfoto nicht das zu sehen gewesen, was er im Buch beschreibt. Hätte Grass sich wegen der Tiefenschärfe für eine kleine Blendenöffnung entschieden und mit Stativ fotografiert? Um die Details dann auch zu zeigen wäre ein großformatiger Abzug erforderlich (ab DIN A4), der in kein Fotoalbum passt. Schlägt also in dieser Hinsicht das geschriebene Wort die Fotografie?

Fotos entstehen im Kopf

Sicherlich nicht. Allerdings müssen Fotografen mit einem geschulten fotografischen Blick an das Motiv herangehen. Dieser Blick nimmt Bildkomposition samt Tiefenschärfe und Lichteinfall vorweg. Das Foto entsteht zuerst im Kopf und wird dann mit vorhandener Technik umgesetzt. Übrigens: Manuelle Kameraeinstellungen helfen hier sehr. Vielleicht wäre ein Fontaneporträt, aufgenommen von einer Leiter aus seiner Blickrichtung, angebracht? Oder besser doch das Standardfoto von vorne? Sie entscheiden, wenn Sie einmal vor dem Denkmals auf dem Fontaneplatz in Neuruppin stehen.

Details erkennen

Auf dem Foto oben sehen Sie links die Hamburger Elbphilharmonie und rechts eine Detailaufnahme der Fassade. Wer die Immobilie sachlich kurz anschaut und "Aha, Elbphilharmonie!" denkt, der wird nie diese Details sehen. Er bestätigt sich nur, dass ihm die Umwelt vertraut ist - kein Grund zur Beunruhigung. Es lohnt sich immer, das zeigt das Foto oben, ganz genau wie Günter Grass hinzuschauen. Das klappt in diesem Fall entweder mit Teleobjektiv oder mit Fernglas.

Unschärfe schafft Bildaussage

Völlige Bildschärfe war schon immer Ansichtssache. Peter Henry Emerson schreibt 1889 in seinem Aufsatz "Die Gesetze der optischen Wahrnehmung und die Kunstregeln, die sich daraus ableiten lassen": (...) kann man nun verstehen, daß ein Bild nicht in jedem Teil zu scharf sein sollte, denn dann wird es falsch. Es sollte gerade so scharf werden, daß es am besten die Erscheinung der Natur, so wie man sie von einem bestimmten Standpunkt aus wahrnimmt, wiedergibt und nicht schärfer, denn man muß bedenken, daß das Auge die Dinge nicht so scharf sieht wie die fotografische Linse (...)" Das menschliche Auge arbeite fehlerhaft und berichtige ab einer Entfernung von sechs Metern die Tiefenwerte nicht korrekt. Schärfe stehe nur dem Hauptgegenstand des Bildes zu, alles andere dürfe nicht scharf sein.

Hübsches Gesicht fixiert

Emerson erklärt seine Sichtweise anhand des folgenden Beispiels: "Ein verfallener hölzerner Landungssteg steht neben einigen Trauerweiden am Ufer eines Sees. Vom Landungssteg führt ein Weg durch einen Garten hin zu einer strohgedeckten Hütte, ungefähr 90 Meter entfernt. Hinter der Hütte
läuft eine Pappelallee. Auf dem Landungssteg steht ein schönes sonnengebräuntes Bauernmädchen in einem einfachen Baumwollkleid. Sie lehnt gegen eine Weide und schaut versonnen in das Wasser. Wir, die wir auf dem See rudern, sind von dem Bild, aber besonders von der blendenden Schönheit des Bauernmädchens gerührt. Unsere Augen fixieren ihr gesundes Gesicht und können nirgendwo anders hinschauen." Direkt und scharf werde nur das Gesicht des Mädchens gesehen. Die anderen Dinge wie Weiden, Steg und Baumwollkleid kennen wir, würden sie aber unscharf sehen.

Augen finden keinen Anhaltspunkt

Emerson verändert nun sein Beispiel wie folgt: "(...) stellen wir uns vor, daß das Ganze sich verändert, so wie eine Bühnenszene sich verändert. Allmählich treten das Kleid des Mädchens und die Rinde und die Blätter der Weiden scharf heraus, die Hütte verwandelt sich und wird scharf, so daß die Umrisse des Mädchens wie ausgeschnitten vor ihr erscheinen, die Pappeln in der Ferne sind scharf, und das Wasser kommt näher, und alle Kräuselungen auf seiner Oberfläche und alle Lilien an seinem Rand sind scharf. Und wo ist das Bild? Verloren! Das Mädchen ist das, aber sie ist nur ein Fleck inmitten all der scharfen Details (...). Unsere Augen irren von der Rinde zu den Blättern und von dem Stroh auf dem Dach hin zu den kleinen Wellen, sie finden keinen Anhaltspunkt (...)"

Mit Schärfe spielen

Nun haben wir die Grass´sche Schärfe und die Unschärfe, nach der Emerson es verlangt. Den Blick des Betrachters zu führen, ist stets eine gute Wahl. Das gelingt mit gezielter Unschärfe ganz sicher. Genau hinsehen und sich nicht nur mit der Definition dessen zufrieden zu geben, was wir sehen, gehört zum fotografischen Blick ganz gewiss dazu. Wie Sie dahin kommen? Probieren Sie einfach alles aus: Spielen Sie mit Schärfe und Unschärfe, unterschiedlichen Perspektiven, verschiedenen Belichtungszeiten bis hin zur Langzeitbelichtung, Licht und Schatten, Bildausschnitten usw. bis Sie mit der Bildaussage zufrieden sind. So schulen Sie Ihren fotografischen Blick.

Übrigens: Ich hätte mich in Emersons Beispiel für ein Porträtfoto des Mädchens entschieden. :-)

(Der Aufsatz von Emerson ist im Buch "Texte zur Theorie der Fotografie" des Reclam Verlags zu finden.)

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